In dieser Ridvan-Zeit mit all ihrem Glanz als Anbruch außergewöhnlicher, ereignisreicher Tage sind un- sere Herzen tief bewegt, und andächtig knien wir vor dem Herrn der Herrlichkeit, durch dessen Gnade wir an einem glückverheißenden Kreuzweg in der Geschichte Seiner Sache angelangt sind.
Vom Gipfel des zu Ende gegangenen Sechsjahresplanes gelangen wir jetzt an die Schwelle des Heiligen Jahres, ehrfürchtig erschauernd beim bloßen Gedanken an die einzigartige Bedeutung dieser geheiligten Zeit der Rückbesinnung, da vor hundert Jahren Bahá'u'lláh, der Verheißene aller Zeitalter, vom Erdenleben Ab- schied nahm. Die Sonne der Wahrheit jedoch ging nur unter, um für immer und ewig vom "Reich unvergängli- cher Herrlichkeit"1) zu scheinen und hinfort den Strahlenglanz ihrer erneuernden Macht auf die ganze Welt zu ergießen. Hinweggegangen aus diesem Dasein ist der Urheber einer Offenbarung von "unfassbarer Größe", in der "alle Sendungen der Vergangenheit ihre höchste, letzte Vollendung erreicht" haben, 2) der Begründer eines neuen Menschheitszyklus, "der sich über einen Zeitraum von mindestens fünfhunderttausend Jahren erstrecken muss",3) der Stifter einer Weltordnung, eines "Systems, desgleichen kein sterbliches Auge je gesehen hat".4) Ja, mehr noch, Er war der Dämmerort des Tages Gottes, des Tages, da Gottes vortrefflichste Gunstbezeigun- gen über die Menschen ausgeschüttet wurden".5) Das ist die alles überragende Wirklichkeit, auf die unsere Betrachtungen zu dieser besonderen Jahresfeier an einem so kritischen Zeitpunkt in den Geschicken der Menschheit gerichtet sind.
So erfüllt sind wir von den geweihten Erinnerungen dieses Heiligen Jahres, dass wir Sie alle einladen möchten innezuhalten, wenn Sie in diese Periode der Besinnung eintreten, diese Zeit erneuter Hinwendung, diese Etappe der Vorbereitung auf noch zu leistende Aufgaben, auf noch zu erklimmende Gipfel, auf noch zu entschleiernde Pracht. Denn wenn wir nun zurückschauen auf hundert Jahre einer beispiellosen Geschichte unaufhörlichen Fortschritts, dann blicken wir zugleich voraus auf viele Jahrhunderte einer sich entfaltenden Erfüllung der Göttlichen Absieht, und wie die Erfahrung zeigt, wird diese Erfüllung immer stärker bewirkt durch systematisch fortschreitende Pläne, aber auch durch immer neue Epochen wundersamer Sprünge und Schübe.
Was uns in der Tat mitten in dieses verheißungsvolle Heilige Jahr hineinführt, ist die Schau neuer Hori- zonte, wie sie der triumphale Abschluss des Sechsjahresplanes eröffnet, der mit der Eröffnungsphase der vier- ten Epoche im Gestaltenden Zeitalter unseres Glaubens zusammenfiel. Triumphal ist alles in allem nicht so sehr der Zuwachs in Zahlen, wenngleich sich die Gemeinde an vielen Orten zu bestimmten Zeiten ungewöhn- lich stark ausweitete. Der Triumph offenbart sich in einer neuen Vielfalt von Siegen, in neuen Anfängen, fri- schen Initiativen und ausgereiften institutionellen Entwicklungen, die dem Erfolg bei den sieben Hauptzielen des Planes gleichsam den Stempel aufdrücken. So unmöglich es auch ist, auf diesen wenigen Seiten die Ergeb- nisse des Planes aufzulisten, verdienen doch die wichtigsten Entwicklungstrends während dieser bemerkens- wert dynamischen Zeit hervorgehoben zu werden. Die Bahá’í-Gemeinde hat sich in den letzten sechs Jahren auffallend verändert. Die wichtigsten Anzeichen dafür sind zweifellos für die Freunde allüberall wahrnehmbar und können wie folgt zusammengefasst werden:
Erstens: Bahá’u’lláhs Glaube ist in jedem Land der Erde vertreten. Der plötzliche Wandel des politischen Klimas, ohne Zweifel durch Gottes Großen Plan bewirkt, hat riesige Gebiete für die Durchdringung mit den göttlichen Lehren eröffnet, vor allem in der vormaligen Sowjetunion und den früheren Ostblockländern. Die durch diesen Wandel geschaffenen Möglichkeiten führten dazu, dass Ritter Bahá’u’lláhs die letzten aus Shoghi Effendis Zehnjahres-Weltkreuzzug verbliebenen unberührten Gebiete besetzten. Diese Möglichkeiten veran- lassten auch dazu, an Ridvan 1990 den Zweijahres-Ergänzungsplan für diese Gebiete zu beginnen, was zu einem aufsehenerregenden Erfolg führte, nicht nur bei der Ausbreitung in den vielen betroffenen Ländern, son- dern auch bei der Vielgestalt der von den neuen Gläubigen dieser Länder vertretenen Gesellschaftsschichten, beim Umfang und der Vielschichtigkeit des Bahá’í-Schrifttums sowie bei der Zahl der in dieser kurzen Zeit errichteten Bahá’í-Institutionen. Die Bahá’í-Welt sah sich durch diese Entwicklungen stark angeregt; auch anderswo verzeichneten einige Länder bedeutende Erfolge in der Lehrarbeit. Die bis jetzt im Weltzentrum verfügbaren Zahlen vermelden, dass während des Sechsjahresplanes mehr als anderthalb Millionen Seelen der Sache Gottes beigetreten sind. Überaus interessant ist das besondere dreijährige Lehrprojekt in Guyana, das zu einem Wachstum der Bahá’í-Gemeinde bis auf sechs Prozent der Bevölkerung führte.
Zweitens: Auf der ganzen Welt erreichte die Proklamation des Glaubens eine völlig neue Stufe. Inspiriert durch die Jahrhundertfeier der Verkündigung Bahá’u’lláh an die Könige und Herrscher der Menschheit, war 1967 ein Proklamationsfeldzug eingeleitet worden, der 1979 mit der Woge von Verfolgungen der iranischen Bahá’í-Gemeinde an Schwungkraft gewann und neuerdings mit der Verteilung der "Verheißung des Weltfrie- dens" stark ausgeweitet wurde. Könige und Königinnen, Präsidenten und Premierminister, Gesetzgeber, Juris- ten, Akademiker, verschiedenartigste Institutionen und Organisationen wurden der Botschaft Bahá’u’lláhs gewahr. Die Kreativität, mit der sich überall die Gemeinden in die offene Verbreitung der Sache Gottes einüb- ten, wurde zu einer Triebkraft für den Plan und erregte in beträchtlichem Ausmaß bei Organisationen, Mei- nungsträgern und Medien das Interesse an den Problemlösungen, die unser Glaube einer seltsam verwirrten Welt zu bieten hat. Begeistert von der Stoßwirkung der für die Glaubensproklamation getroffenen Maßnahmen sowie der fortgesetzten Bemühungen zur Verteidigung der schwer verfolgten iranischen Bahá’í-Gemeinde ha- ben nationale wie örtliche Geistige Räte im Umgang mit der Öffentlichkeit eine eindrucksvolle Kühnheit und Originalität entfaltet, und sie tun es weiterhin. Dies zeigt sich in ihren unzähligen Kontakten zu Beamten auf allen staatlichen Ebenen, in ihren Verbindungen zu einem sich ausweitenden Spektrum von Organisationen und in ihrem immer gewandteren Umgang mit den Medien.
Drittens: Im Dezember 1986 brachte die Einweihung des Muttertempels für den indischen Subkontinent der Lehr- und Proklamationsarbeit des Glaubens einen neuen Kräfteschub. Als ein Bauwerk von seltener Schönheit und Vollkommenheit gewann der "Lotostempel" breite Zustimmung und fand gleichzeitig bei großen Besucherzahlen ungewöhnlichen Anklang. Sein Ruhm als architektonisches Wunderwerk verbreitete sich wie ein Lauffeuer, ebenso sein geistiger Einfluss. Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass unter allen Bahá'í-Häusern der Andacht dieser Tempel heutzutage der wirksamste stumme Lehrer ist; Jahr für Jahr zieht er mit durchschnittlich 20.000 Besuchern pro Tag mehr Menschen an als alle anderen Bahá’í-Tempel zusam- mengenommen. Zu den Besuchern aus vielen Ländern gehören einige der prominentesten Persönlichkeiten der Welt. Als Gegenstand von großem Medieninteresse wurde der Tempel selbst in russischen und chinesischen Fernsehprogrammen dargestellt. Sein Erfolg in dieser Hinsicht hat unermesslich zu der starken öffentlichen Aufmerksamkeit für den Glauben beigetragen.
Viertens: Das weitere Hervortreten des Glaubens aus der Verborgenheit spiegelt sich auf verschiedenarti- ge Weise. In gebildeten Kreisen, in Nachschlagewerken und in den Medien wird der Glaube Bahá’u’lláhs mehr und mehr als eine der "wichtigen" oder "Haupt"-Religionen in der Welt bezeichnet. Durch die verstärkte Pro- klamation der Freunde werden die Glaubenstätigkeiten in den Medien immer ausgiebiger behandelt; aber noch wichtiger ist die Tatsache, dass die Medien von sich aus Interesse an der Bahá’í-Gemeinde zeigen und in wei- ten Teilen der Welt Kontakt zu ihr suchen. Einflussreiche Segmente der Öffentlichkeit auf Gebieten wie Frie- densarbeit, Umwelt, Stellung der Frau, Erziehungswesen und Alphabetisierung sind in wachsendem Maße den Bahá’í-Ideen ausgesetzt; deren Reaktion bewirkte, dass die Bahá’í mehr und mehr zur Teilnahme an weitver- zweigten Projekten im Verbund mit staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aufgerufen sind.
Überdies wächst dadurch, dass das öffentliche Bewusstsein den Bahá’í-Ideen ausgesetzt ist, die Erkennt- nis, dass der Glaube Bahá'u'lláhs Antworten auf die Weltprobleme hat, aber auch die Erwartung, dass die Bahá’í-Gemeinde in den öffentlichen Dingen eine immer aktivere Rolle spielt. Der beachtliche Erfolg des Um- weltbüros der Bahá’í-Weltgemeinschaft, das während des Planes errichtet wurde, verdeutlicht das Wesen die- ser Entwicklung. Auch die formellen Beziehungen, welche die Bahá’í-Weltgemeinschaft mit dem Netzwerk für Religion und Bewahrung der Schöpfung beim Weltweiten Fonds für die Natur (WWF) sowie mit der Weltkon- ferenz für Religion und Frieden geknüpft hat, spiegeln in Verbindung mit den zahlreichen gleichartigen Bezie- hungen der nationalen und örtlichen Geistigen Räte in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich einen Trend im Hervortreten des Glaubens als ein Gebilde, mit dem man rechnen muss. Insgesamt führt die Stoßkraft des weitverzweigten Proklamationsfeldzuges zu einem öffentlichen Echo auf den Glauben Bahá’u’lláhs; man kann jetzt sagen, dass Bahá'u'lláhs Glaube den wichtigsten öffentlichen Institutionen und den prominentesten Per- sönlichkeiten auf Erden bekannt ist.
Fünftens: Die Bahá’í-Projekte der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung haben sich vervielfacht und mit ihren an zahlreichen Orten gegebenen Beispielen für die Macht der Gruppeninitiative sowie der frei- willig beratenden Tätigkeit der Gemeinde einen guten Ruf gebracht. Es handelt sich um mehr als tausend Pro- jekte auf den Gebieten des Erziehungswesens, der Landwirtschaft, der Gesundheitsfürsorge, der Alphabetisie- rung, der Umwelt und der verbesserten Stellung der Frauen. In etlichen Fällen kam diesen Projekten die Zu- sammenarbeit mit staatlichen Stellen und internationalen nichtstaatlichen Organisationen zugute, so zum Bei- spiel bei dem Projekt für die verbesserte Stellung der Frauen, das fünf nationale Geistige Räte mit der finan- ziellen Unterstützung des Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für die Frauen (UNIFEM) eingeleitet haben; Projekte auf anderen Gebieten wurden durch die kanadische, die indische, die deutsche und die norwe- gische Regierung unterstützt. Einige Projekte brachten so ausgezeichnete Ergebnisse, dass sie durch lobende Erwähnung sowie Preisverleihungen seitens Regierungen und internationaler nichtstaatlicher Organisationen öffentliche Aufmerksamkeit erregten.
Sechstens: Die Jugendarbeit nahm durch die Idee eines Jahrs des Dienstes für die Jugend einen besonde- ren Charakter an. Der Einbezug der Jugend in den Sechsjahresplan als Kurzzeit-Pioniere, Reiselehrer und Projektbeteiligte wirkte sich gründlich auf die Lehrarbeit allüberall aus und federte die Bemühungen einer wachsenden Zahl von nationalen wie örtlichen Gemeinden um soziale und wirtschaftliche Entwicklung ab. An den vielen Siegen in den ehemals kommunistischen Ländern waren die Jugendlichen stark beteiligt. Ihre Mitar- beit bei Projekten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung zog in mehreren Fällen die Aufmerksamkeit von Regierungen und Entwicklungsorganisationen auf sich. Die Bildung des Europäischen Bahá’í-Jugendrates spornte dort die Aktivitäten der Jugend an, was wiederum den Schub der Lehrarbeit in diesem Erdteil während der letzten Jahre des Planes machtvoll unterstützte. Ein bedeutsamer Wesenszug der Jugendarbeit ist der Bei- trag von Kurzzeit-Freiwilligen aus allen Teilen des Planeten zur Arbeit des Weltzentrums, wo ihre Dienste von unschätzbarem Wert waren.
Siebtens: Die Fortschritte bei der Festigung des Bahá’í-Verwaltungssystems treten mit der deutlichen Verbesserung der inneren Entwicklung und mit den Bemühungen seiner beiden Arme um enge Zusammenar- beit klar zutage. Die heiß geliebten, unerschrockenen Hände der Sache Gottes verfolgen, getreu ihrer Bindung an ihren geliebten Hüter, weiterhin ihre einzigartigen Dienste und überraschen die Gemeinde mit ihrer nie ver- siegenden Kraft. Wachsende Kraft und Zuversicht bei den Beraterämtern und ihren Hilfsämtern, unterstützt von einem verstärkten, tatkräftigen Internationalen Lehrzentrum, verschafft den Geistigen Räten, die anzure- gen und zu beraten ihre Aufgabe ist, eine Untermauerung, die für die Wohlfahrt des ganzen Systems unab- dingbar ist, während die erweiterten Tätigkeiten der nationalen und örtlichen Geistigen Räte, die ihrerseits die Geschicke ihrer Gemeinden zu leiten haben, die Basis des Systems beträchtlich in die Breite wachsen ließ. Seite an Seite haben diese Institutionen mit ihrer Arbeit die Entwicklung der Verwaltungs- und Gesellschafts- ordnung erleichtert und angekurbelt. Mehr noch: Sie zeigen eine schöpferische Kraft, die für ihren weiteren Reifungsprozeß Gutes verspricht.
Achtens: Die großen Bauvorhaben am Berg Gottes, von Bahá’u’lláh im Tablet vom Karmel vorausge- schaut, von ‘Abdu’l-Bahá mit dem Bau des Schreins des Báb begonnen und nach den Plänen Shoghi Effendis fortgesetzt, haben jetzt eine neue Stufe erreicht. Die Arbeit begann im Mai 1990 mit der Verstärkung und Er- weiterung der Hauptterrasse um den Schrein des Báb als erstem Schritt zur Verwirklichung des architektoni- schen Konzepts für die Erfüllung der Vision 'Abdu'l-Bahás mit Terrassen vom Fuß bis zum Kamm des Berges. Im September des folgenden Jahres wurden die Erdarbeiten am Bau des Zentrums für das Studium der heiligen Texte und an der Erweiterung des Internationalen Archivgebäudes in Angriff genommen. Diesen Bauten folgt die Errichtung der anderen Gebäude am Bogen: der Sitz des Internationalen Lehrzentrums sowie zu gegebener Zeit die Internationale Bahá’í-Bibliothek.
Alle diese Entwicklungen machen offenkundig, dass das für den weiteren Fortschritt der Ba- há’í-Gemeinde zusammenkommende Potential kaum abzuschätzen ist. Die veränderte Lage innerhalb und zwi- schen den Nationen und die vielen gesellschaftlichen Probleme vergrößern dieses Potential zusätzlich. Dieser ganze Wandel vermittelt den Eindruck, dass der Geringere Friede nahegekommen ist. Aber gleichzeitig fla- ckern Gegenkräfte wieder auf. Die neue Flutwelle politischer Freiheit, ausgelöst durch den Zusammenbruch der Bollwerke des Kommunismus, führte zu einer Explosion des Nationalismus. Der damit wieder einherge- hende Rassismus in vielen Gebieten ist zum Gegenstand ernster globaler Sorge geworden. Vermischt werden diese beiden Elemente in einem aufwallenden religiösen Fundamentalismus, der die Brunnen der Toleranz ver- giftet. Der Terrorismus grassiert. Weitverbreitete Unsicherheit über die wirtschaftlichen Zustände weisen auf eine tiefgreifende Unordnung bei der Steuerung der materiellen Angelegenheiten des Planeten, was das Gefühl der Frustration und der Zwecklosigkeit im politischen Bereich nur verschlimmern kann. Alarmierend ist der verschlechterte Zustand der Umwelt sowie der Gesundheit weiter Bevölkerungskreise. Und doch gehören zu den Elementen des Wandels auch erstaunliche Fortschritte der Kommunikationstechnik, welche die rasche Übermittlung von Informationen und Ideen von einem Teil der Welt zum anderen ermöglichen. Diese "gleich- zeitigen Vorgänge des Aufstiegs und des Untergangs, des Zusammenschlusses und des Auseinanderfallens, der Ordnung und des Chaos mit ihren fortgesetzten, wechselseitigen Auswirkungen aufeinander”6) sind der Hin- tergrund, vor dem sich eine Myriade neuer Möglichkeiten für die nächste Stufe in der Entfaltung des Göttli- chen Planes unseres geliebten Meisters anbietet.
Die mit Bahá’u’lláhs Offenbarung erwachten linden Lüfte schienen mit dem Näherrücken des Heiligen Jahres den Charakter eines Sturms anzunehmen, der durch die überlebten Strukturen der alten Ordnung fegt, mächtige Stützen umlegt und den Baugrund für neue Entwürfe gesellschaftlicher Organisation freimacht. Der Ruf nach Einheit, nach einer neuen Weltordnung, ist aus vielen Richtungen zu hören. Der Wandel der Weltge- sellschaft zeichnet sich durch eine unglaubliche Geschwindigkeit aus. Ein Wesenszug dieses Wandels ist seine Plötzlichkeit, ja Überstürzung, offensichtlich als die Wirkung einer wilden, verborgenen Kraft. Positiv an die- sem Wandel sind die noch ungewohnte Offenheit für weltumspannende Konzepte, die Tendenz zu internationa- ler und regionaler Zusammenarbeit, die Neigung kämpfender Parteien, sich für friedliche Lösungen zu ent- scheiden, die Suche nach geistigen Werten. Selbst die Gemeinschaft des Größten Namens erlebt derart uner- bittliche Wirkungen, weil dieser belebende Sturm unser aller Denkweise durchlüftet, aber auch unsere Gesamt- schau für den Zweck der auf die Leiden und den Aufruhr der Menschheit folgenden Ordnung Bahá’u’lláhs erneuert, klärt und erweitert.
Während uns die Weltlage vor eine große Herausforderung von höchster Dringlichkeit stellt, führt sie uns zugleich die ermutigende Gesamtschau Shoghi Effendis vor Augen. Über die Aussichten der Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung im zweiten Jahrhundert der Bahá’í-Zeitrechnung, dessen Scheitelpunkt wir uns mit Riesenschritten nähern, schrieb er 1946: "Dem zweiten Jahrhundert ist bestimmt, Zeuge eines gewaltigen Aufmarsches sowie einer bemerkenswerten Festigung derjenigen Kräfte zu werden, die an der weltweiten Ent- wicklung jener Ordnung arbeiten, ebenso Zeuge der ersten Regungen jener Weltordnung, für die das gegenwär- tige Verwaltungssystem zugleich Vorläufer, Kern und Muster ist. In dem Maße, wie diese Ordnung kristalli- siert und ihren wohltätigen Einfluss über den ganzen Planeten ausstrahlt, kündet sie einerseits das Erwachsen- werden der ganzen Gattung Mensch, andererseits die Reife des Glaubens, ihres Ahnherrn." 7)
Wenn wir uns der besonderen Gelegenheiten des Heiligen Jahres bewusst werden, empfangen wir sicher- lich die nötige geistige Ausrüstung, um die drängenden Aufgaben der nächsten Entwicklungsstufe des Göttli- chen Planes in Angriff nehmen zu können. Diese Zeit des Gedenkens zieht die richtige Trennlinie zwischen den herrlichen Triumphen der letzten hundert Jahre und den glänzenden Trophäen, die wir noch einsammeln müs- sen. Zu Beginn heißen wir freudigen und dankbaren Herzens die weitere Ausdehnung und Festigung der Ver- waltungs- und Gesellschaftsordnung willkommen, die daraus erwächst, dass zu dieser Ridvan-Zeit zwölf Nati- onale und Regionale Geistige Räte neu gebildet werden. Wie eindrucksvoll ist es doch, dass die Anzahl dieser Räte der Zahl nationaler Geistiger Räte entspricht, die es 1953, zu Beginn des Zehnjahresweltkreuzzuges, insgesamt gab - ein erfreulicher Beweis für die rasche Ausdehnung der Verwaltungs- und Gesellschaftsord- nung in knapp vierzig Jahren. Mit diesen neuen Räten wird die Zahl der Nationalen Geistigen Räte, die an der siebten Internationalen Bahá’í-Tagung nächstes Ridvan teilnehmen, 165 betragen, unter Berücksichtigung des Einbezugs von Sikkirn nach Indien sowie der Unterbrechung der Bahá’í-Verwaltungstätigkeit durch die unsi- cheren Verhältnisse in Liberia.
Freudig kündigen wir an, dass die folgenden Hände der Sache Gottes als unsere Vertreter sechs der Gründungstagungen beiwohnen werden: ‘Amatu’l-Bahá Rúhíyyih Khánum wird bei den Tagungen in Bulga- rien und Polen zugegen sein, 'Ali-Akbar Furútan bei denjenigen der baltischen Staaten sowie Ungarns, und Dr. 'Ali-Muhammad Varqá bei den Tagungen in Grönland, Weißrußland und Moldawien. Bei den übrigen Grün- dungstagungen werden Berater unsere Vertreter sein: George Allen in der Republik Kongo, Dr. Farzam Arbab in Zentralasten, Rolf von Czékus in Angola, Frau Parvin Djoneidi in Niger, Hartmut Grossmann in Albanien und Mas'úd Khamsí in Aserbeidschan.
In nur wenigen Wochen wird in der geheiligten Umfriedung des Schreins Bahá'u'lláhs eine Versammlung erhabenen Zweckes stattfinden und den hundertsten Jahrestag des Hinscheidens des Verlangens aller Völker begehen. Die Ehrenrolle mit den Namen der Ritter Bahá'u'lláhs wird, wie von unserem geliebten Hüten ange- kündigt, am Morgen zuvor, dem 28. Mai, unter der Eingangstür zum innersten Heiligtum des Allheiligen Schreines niedergelegt worden sein; sie soll dort verbleiben, Symbol für den historischen Sieg, als Lohn der unerschütterlichen Entschlossenheit seitens der Liebenden der Gesegneten Schönheit, derer, die dem Ruf zum mächtigen Zehnjahres-Kreuzzug geantwortet und das Banner Seines Glaubens in den unberührten Gebieten der ganzen Welt aufgepflanzt haben.
Später, im November, werden sich die Heerscharen Bahá’u’lláhs in New York zu Tausenden versam- meln, um mit einer hochsymbolischen Geste namens ihrer Brüder auf der ganzen Welt ihre Hochachtung für den von Bahá’u’lláh vermachten Bund zu bezeugen, um das Gedenken Dessen wachzurufen, den Er zum Mit- telpunkt dieses Bundes ernannt hatte und der den Rang dieser Metropole erhöhte, indem Er ihr den Ehrenna- men "Stadt des Bundes"8) verlieh. Dort werden sie auch die Macht der Einheit beweisen, die der Gottesbund allen Völkern der Welt sichern soll. Es wird ein Moment überragender Bedeutung für die Bahá’í-Gemeinde in den Augen der Weltöffentlichkeit werden.
Diese beiden internationalen Ereignisse sind Angelpunkte für Treffen mit gleicher Absicht, an denen die Freunde in allen Winkeln der Welt teilnehmen. Der geistige Charakter und die würdige Art ihrer Teilnahme werden sicherlich die Bestätigungen aus der Höhe anziehen und so zutiefst die aufbauenden Kräfte beeinflus- sen, die auf der ganzen Erde am Werk sind.
Ein weiterer Quell des Segens, auf den wir seit langem unsere Hoffnung richten, wird gleichfalls offen- bar. Bahá’u’lláh schreibt: "Als Wir im Gefängnis waren, haben Wir ein Buch offenbart, das Wir "Das Heiligs- te Buch" benannten. Darin haben Wir Gesetze gegeben und es geschmückt mit den Geboten deines Herrn, der die Amtsgewalt übt über alle in den Himmeln und auf Erden."9) In voller Erkenntnis der welterschütternden Bedeutung dieses Schrittes kündigen wir Ihnen daher die Veröffentlichung der mit Anmerkungen versehenen englischen Übersetzung des Kitáb-i-Aqdas während dieses Jahres an - des von Bahá’u’lláh vor etwa vier Men- schenaltern im Haus 'Udi Khammar zu 'Akká offenbarten Grundgesetzes der künftigen Weltkultur.
Inmitten des durch die beiden großen Gedenkfeiern wie auch die bevorstehende Veröffentlichung des Mutterbuches der Bahá’í-Offenbarung verursachten ungeduldigen Vorgefühls tritt nun das Gesetz des Huqúq’ulláh als Teil der feststehenden Lebenspraxis bei allen Gliedern der ganzen Weltgemeinschaft in Kraft. Mögen die verheißenen Gnadengaben, die mit der Inkraftsetzung dieses heiligen Gesetzes verbunden sind, auf die Geliebten des Herrn in jedem Land herniederströmen.
Ein Jahr - beladen mit Ereignissen von so geheiligter Tragweite - muss zu Folgerungen von unvorstell- barer Wirkkraft hinführen. Was sich daraus unmittelbar ergibt, lässt sich unmöglich voraussagen; es ist mü- ßig, darüber zu spekulieren. Statt dessen sollten wir lieber unsere Gedanken auf die Bedeutung der weihevollen Ereignisse richten, an die uns dieses Jahr erinnern soll, ist doch der Zweck des Heiligen Jahres keineswegs mit öffentlichen Gedenkfeiern erfüllt, so angemessen sie auch gestaltet sein mögen. Wesentlich ist die Gelegenheit zu innerer Neubesinnung, die dieses Jahr jedem einzelnen Bahá’í bietet. Es ist fürwahr die besondere Zeit für ein Rendezvous der Seele mit dem Quell ihres Lichts und ihrer Führung, eine Zeit der Hinwendung zu Ba- há’u’lláh, der Suche nach einem vertieften Werturteil über Seine Absicht, der Erneuerung der Ergebenheit für Ihn. Es ist eine Zeit des Rückzugs auf den eigenen Wesenskern, hin zur Wohnstatt des Geistes Bahás, hinein in jenen Innenraum, in den Er uns einlädt mit den Worten: "Schaue in dich, dass du Mich in dir findest, mächtig, stark und selbstbestehend."10) Ja, es ist eine Zeit der erneuerten Hinwendung zum Bund Gottes, des erneuerten Pflichtbewusstseins, der erneuerten Kraft zum Lehren, zur "verdienstvollsten aller Taten". 11)
Die wichtigste Hilfe für Ihre Neubesinnung und Ihre Taten wird Ihnen sicherlich die Einsicht und die Begeisterung aus Seinen Worten bieten, so etwa den folgenden: "Ich bin die Sonne der Weisheit, das Meer der Erkenntnis. Ich ermutige die Schwachen und belebe die Toten. Ich bin das Licht der Führung, das den Weg erhellt.''l2) "Bei Meinem Leben! Nicht aus eigenem Antrieb habe Ich von Mir gekündet, sondern Gott hat Mich nach Seinem ureigenen Ratschluss offenbart."13) "Ich bin im Schatten der Wolken der Herrlichkeit gekommen und von Gott mit unüberwindlicher Souveränität bekleidet."14) "Wer Mich nicht hat, ist aller Dinge verlustig. Wendet euch ab von allem, was auf Erden ist, und suchet nur Mich."15) "Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe dich niemals erreichen. Erkenne dies, o Diener!"16) "Die Alt- ehrwürdige Schönheit hat eingewilligt, in Ketten gelegt zu werden, damit die Menschheit aus ihrer Knecht- schaft erlöst werde, und hat es hingenommen, zum Gefangenen in dieser mächtigsten Festung zu werden, damit die ganze Welt wahre Freiheit gewinne. Er hat den Kelch des Leidens bis zur Neige geleert, damit alle Völker der Welt immerwährende Freude erlangen und von Fröhlichkeit erfüllt werden."17 )
Wohin uns die persönliche Neubesinnung oder unser erneuertes Pflichtbewusstsein auch führen, einer Sache müssen wir gewiss sein: Der Name des Lebensspenders der Welt wird nunmehr auf der ganzen Erde bekannt, unter hoch und niedrig gleichermaßen. Wenn wir uns bewusst machen, dass seit dem Hinscheiden der Gesegneten Schönheit bereits ein volles Jahrhundert verstrichen ist, wenn wir beobachten, wie immer lauter aus den Herzen derer, die sich nach Hoffnung auf Trost sehnen, wahrhafte Angstschreie dringen, dann können wir, Seine bekennenden Diener, vor dieser höchsten, drängendsten Pflicht weder schwanken noch ermatten. Denn Er, Bahá’u’lláh, ist die Höchste Manifestation, der Einiger und Erlöser der ganzen Menschheit, der Springquell der Gerechtigkeit, der unsterbliche Geliebte. Nach Seiner unfehlbaren Verkündigung ist "Er, der Unbedingte, in den Wolken des Lichts gekommen, um alles Erschaffene mit dem Odem Seines Namens, der Allbarmherzige, zu beleben, um die Welt zu vereinen und alle Menschen zu versammeln an dieser Tafel, die vom Himmel herabgesandt ist."18) Lasst uns Seinen Namen mit Würde tragen, hin zu denen, die ihn hören müssen, Lasst uns ihn darbieten als einen Schatz für Die, welche ihn empfangen müssen, Lasst uns ihn voll Liebe aussprechen gegenüber denen, die ihn sich zu eigen machen müssen.
Wie lobenswert wäre es doch, wenn jeder von uns, erfüllt von dem Verlangen, Bahá’u’lláhs Namen laut auszurufen, und als Demonstration seiner besonderen Liebe für die Schönheit Abhá, seinen persönlichen Lehr- feldzug dergestalt in Gang brächte, dass die gemeinsame Kraft und die Ergebnisse dieser Feldzüge in der gan- zen Welt die weihevollen Übungen dieses Heiligen Jahres zu einem weithin hallenden Schlußakkord führten und somit die Bühne aufschlügen für den Start des bevorstehenden Dreijahresplanes zu Ridvan 1993!
Zum Schluss scheint es uns zu dieser Stunde besonders angemessen, Bahá’u’lláhs Erklärung im Heiligs- ten Buche in Erinnerung zu rufen, mit der Er zu unserer Betroffenheit bei Seinem Hinscheiden Seinen Willen zum Ausdruck bringt: "Seid nicht verzagt, o Völker der Welt, wenn die Sonne Meiner Schönheit untergegan- gen und der Himmel Meines Heiligtums vor eueren Augen verhüllt sein wird. Erhebt euch, um Meine Sache weiterzutragen und Mein Wort unter den Menschen zu erhöhen. Wir sind immer mit euch und werden euch durch die Macht der Wahrheit stärken. Wir sind wahrhaft allmächtig. Wer Mich erkennt, wird aufstehen und Mir mit solcher Entschlossenheit dienen, dass die Mächte von Erde und Himmel seine Absicht nicht vereiteln können.''l9)
Geliebte Freunde, wir werden nicht versäumen, an der Heiligen Schwelle darum zu bitten, dass Er, die Gesegnete Schönheit, von Seiner Wohnstatt unsterblichen Glanzes her Ihrer aller Seelen mit dem neubeleben- den Odem Seiner himmlischen Macht erfülle.
‘Abdu’l-Bahá , Briefe und Botschaften 5:1zitiert bei Shoghi Effendi, Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, S. 120 f.
zitiert bei Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 155
zitiert in Inhaltsübersicht und systematische Darstellung des Kitáb-i-Aqdas. Das Heiligste Buch Bahá’u’lláhs, Nr. 21
zitiert bei Shoghi Effendi, Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, S. 121
Shoghi Effendi, Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, S. 114
Brief vom 15. Juni 1946 in Messages to America. Selected Letters and Cablegrams Addressed to the Bahá’ís of North Amenca 1932 - 1946, Wilmette, I11.1947, p. 96 f
vgl. Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, S.327Bahá’u’lláh, Ährenlese 45; vgl. Adib Taherzadeh, Die Offenbarung Bahá’u’lláhs, Band 1, S. 186
Brief an den Sohn des Wolfes, S.54